Journal of Literary Theory Bd. 21, Nr. 1 (2027)
Themenschwerpunkt: What’s Invisibility Got to Do with It: Un/Sichtbarkeit und Literaturtheorie
Manuskripttermin: 15. Juli 2026
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»Literature is largely invisible.« (Horowitz 2014, 463) Ebenso verhält es sich mit der Theorie. Die ›Sichtbarmachung‹ von Literatur wie Theorie erfolgt in der Praxis – in der Lektüre und kognitiven Verarbeitung des Geschriebenen beziehungsweise in der Anwendung von theoretischen Konzepten und Herangehensweisen sowie in Praktiken des Theoretisierens. Zugleich bietet Theorie eine Möglichkeit der ›Sichtbarmachung‹ vorhandener, aber bislang unerkannter Regelwerke und Modellierungsversuche von bislang ›unsichtbaren‹, da unbekannten oder nur unzureichend erklärten Strukturen, die literarischen Werken unterliegen. Damit ließe sich Literaturtheorie an der Schnittstelle von In/Visibilität verorten.
Was genau bedeutet ›Invisibilität‹ in Verbindung mit Literaturtheorie – und wie lässt sie sich theoretisieren? Im Sinne von etwas, das zwar vorhanden ist, aber (absichtlich oder fahrlässig) nicht gesehen, übersehen oder unsichtbar gemacht wird, hat das ›Unsichtbare‹ in der Theoriebildung insoweit einen festen Platz, als das vormals vermeintlich ›Unsichtbare‹ als Impulsgeber fungiert, um neue Denkrichtungen anzustoßen; man denke etwa an die Bedeutung von slow violence für Ecocriticism oder die Sichtbarmachung von Diversität als Motor für die (Weiter-)Entwicklung der Gender und Queer Studies, Race und Critical Whiteness Studies, Disability Studies (Samuels 2003) oder Spectrality Studies (Peeren 2014). Oft richten neue beziehungsweise Neuausrichtungen von Theorien den Blick auf unterschiedliche Manifestationen einer ›Unaufmerksamkeitsblindheit‹ (Mack/Rock 1998) – einer Nichtwahrnehmung spezifischer Aspekte aufgrund einer andersgelagerten Fokussierung der kognitiven Ressourcen –, die an sich Sichtbares, mitunter Offensichtliches als solches nicht erkennt. Formen einer inattentional blindness könnten durch Trends, Schulen oder etablierte Traditionen und Praktiken der Theoriebildung und -rezeption ebenso begründet sein wie durch persönliche Interessen, bestimmte Förderlinien oder innerhalb von Auftragsforschung formulierten Vorüberlegungen.
Die Invisibility Studies, die Françoise Král als »cutting-edge domain of the human sciences in the twenty-first century« (Král 2014, 6) bezeichnet hat, haben einige dieser Fragen aufgegriffen und Unsichtbarkeit sowie Strategien der Unsichtbarmachung in unterschiedlichen visuellen und materiellen Kulturen (Grønstad/Vågnes 2019) untersucht. Auch im Bereich der Narratologie liegen erste Ansätze zu einer Theorie von Invisibilität vor (Guttzeit 2025). An diesen (mittlerweile durchaus sehr präsenten) Trend knüpft das JLT-Themenheft an und lädt sowohl Forschende, die auf dem Gebiet der invisibility studies arbeiten, als auch interessierte und kritische Beobachtende dieser Ansätze dazu ein, Beiträge einzureichen, die die Rolle von In/Visibilität und In/Visibilisierung (als Bedingung, Praxis oder Effekt) im Zusammenhang mit Praktiken der Theoriebildung und des Theoretisierens untersuchen. Ziel ist es, den Blick auf ›un/sichtbare‹ Mechanismen, Logiken und Praktiken der Theoriebildung zu lenken sowie neue Entwicklungen im Bereich der Literaturtheorie auszuloten, die sich aus intersektionaler Perspektive Aspekten von ›Invisibilität‹ widmen.
Einige der in den Beiträgen verhandelten Aspekte könnten folgende Bereiche und Fragestellungen umfassen, wobei diese lediglich als erste Impulse zu verstehen sind:
- Was bedeutet ›Invisibilität‹ in Verbindung mit Literaturtheorie; wie lässt sie sich systematisch erschließen?
- Wie lassen sich die Verwendungsweisen des Ausdrucks ›In/Visibilität‹ in der rezenten Literatur- und Kulturwissenschaft ordnen; welche dieser Verwendungsweisen sind für die Literaturtheorie besonders einschlägig? Der Ausdruck wird mit Bezug auf unterschiedliche Gegenstandsebenen angewendet (soziale Phänomene und Gruppen; Naturprozesse; fiktive Figuren oder Vorgänge in fiktiven Welten; Bestandteile kognitiver Prozesse, etwa Prämissen, Denkmuster oder Vorurteile; kausale Mechanismen in Natur oder Gesellschaft); er wird manchmal wörtlich, manchmal metaphorisch gebraucht. Es scheint auch eine eigene Pragmatik der Rede von In/Visibilität zu geben: Wenn etwas als unsichtbar bezeichnet wird, kann damit eine Entlarvung beabsichtigt oder ein Anspruch (auf bisher verweigerte Sichtbarkeit) erhoben werden.
- Welche Formen von Invisibilität und/oder Prozesse der Invisibilisierung sind für den Bereich der Literaturtheorie von Relevanz und wie geht Literaturtheorie mit unterschiedlichen Formen der Invisibilität um? Eingeladen sind in diesem Kontext vor allem Beiträge, die das Konzept von ›Invisibilität‹ für intersektionale Perspektiven nutzen, um über aktuelle Ansätze im Bereich der Postcolonial/Critical Race/Gender/Disability Studies, Ecocriticism, etc. zu reflektieren. Inwieweit gibt es innerhalb dieser Ansätze Debatten, die die Bedeutung des In/Visiblen als Teil der Theoriebildung ins Zentrum stellen (wie etwa aktuelle Forschungen zu embodiment im Bereich der Cognitive Literary Studies und/oder kritische Reflektionen der Relevanz von (visibilisierbaren) Daten im Bereich Digital Humanities)?
- Welche (un/sichtbaren) Politiken der In/Visibilisierung gestalten Theoriebildung heute beziehungsweise lassen sich in der Geschichte der Literaturtheorie nachzeichnen? Welche ›unsichtbaren Hände‹ sind in der Theoriebildung am Werk; was sind die ›Jekylls‹ und ›Hydes‹ der Literaturtheorie? Im Kontext von Debatten zur Dekolonialisierung des Kanons etwa stellt sich die Frage, inwieweit sich ein ›Kanon‹ der Literaturtheorie etablieren lässt abseits von (un/sichtbaren) ethnozentrischen Denkmustern des Westens und Nicht-Westens und inwieweit ein Theoriekanon (kommuniziert in Form von Anthologien und Handbüchern) überhaupt benötigt wird (Dwivedi/Young 2025).
- Prozesse der Theoriebildung sind oft unsichtbar insofern, als sie nicht – etwa in Theoriedebatten, wofür JLT ein Forum schaffen möchte – explizit gemacht werden, sondern ihre Genese durch Schulen, Vorlieben, bestimmte Förderlinien oder auch durch Zufälle finden. Inwieweit bietet die Auseinandersetzung mit In/Visibilität den Auftakt zu einer Archäologie der Literaturtheorie, die neue Erkenntnisse für heutige Praktiken des Theoretisierens bieten kann?
- Welche Rolle kommt den invisibility studies zu in einer Zeit der Postkritik (Anker/Felski 2017), die zunehmend auf surface reading setzt? Befördern die invisibility studies wieder gerade jene Vorstellungen von verborgenen Tiefenstrukturen, von denen Ansätze der postcritique und des surface reading abrücken wollten?
- Sind Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit Gegensätze (oder ein Kontinuum)? Interessant sind hier vor allem Momente, die Wendepunkte in der Literaturtheorie markieren, wenn das Unsichtbare sichtbar gemacht wird oder umgekehrt. Gefragt werden könnte aber auch: Wie verhält sich so eine historiographische Verwendung des Begriffs der (Un-)Sichtbarkeit zu verwandten Begriffen, anhand derer die Geschichte der Literaturtheorie geschrieben werden kann, also etwa Begriffen wie ›Paradigmenwechsel‹ oder turns?
- Gibt es Regime der Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit (Zitierkulturen, Verschleierung von Quellen), die sich in der Geschichte der Literaturtheorie nachzeichnen lassen beziehungsweise denen sich die heutige Literaturtheorie widmet beziehungsweise widmen sollte? Es gibt keine ›Überwachungstechnologien‹ (Steiner/Veel 2015) in der Literaturtheorie – oder gibt es sie (scheinbar) doch (oder sollte es sie geben) im Zeitalter der generativen KI?
Wir bitten um die Einreichung von Beiträgen bis zum 15. Juli 2026 an die E-Mail-Adresse der Redaktion (JLT@phil.uni-goettingen.de). Artikel, die nicht für eines der Schwerpunktthemen bestimmt sind, können jederzeit und völlig unabhängig von den Manuskriptterminen der Hefte eingesandt werden.
Einreichungen werden in einem doppelt anonymisierten Peer-Review-Verfahren begutachtet und für die Publikation ausgewählt. Weitere Informationen zum Journal of Literary Theory (JLT) sowie zur Einreichung finden Sie auf der Internetseite der Zeitschrift (https://jltonline.de/) oder des Verlages (https://www.degruyter.com /journal/key/jlt/html).
Das JLT veröffentlicht wissenschaftliche Artikel zu Fragen der Literaturtheorie, zur Methodologie der Literaturwissenschaften und zu den Methoden der wissenschaftlichen Interpretation von literarischen Texten. Daneben sind Artikel von Interesse, welche die Geschichte der Fächer erforschen, die mit Literatur befasst sind, und Artikel, welche die Praxis dieser Fächer empirisch untersuchen. Das JLT ist offen für interdisziplinäre Beiträge, die einen Bezug haben zu Literatur und Literaturtheorie, unter anderem aus den Sprachwissenschaften, den Digital Humanities, den Medien- und Kulturwissenschaften sowie der Soziologie, der Philosophie und den Kunstwissenschaften.
Das JLT hat einen dezidierten und exklusiven theoretischen Fokus. Einzelfallstudien werden nicht berücksichtigt. Darunter sind Studien zu verstehen, die einzelnen Autor:innen, literarischen Texten oder literaturgeschichtlichen Problemen gewidmet sind. Auch wenn in solchen Einzelfallstudien theoretische Fragen oder methodische Probleme als Voraussetzung für die eigentliche Untersuchung behandelt und Literaturtheorien in einem gängigen Verständnis ›angewandt‹ werden, ist das JLT nicht der geeignete Ort für sie.
Bei Fragen wenden Sie sich bitte an die Redaktion.
Literatur
Anker, Elizabeth S./Rita Felski, Critique and Postcritique, Durham/London 2017.
Dwivedi, Divya/Robert J.C. Young, Decolonising the Theory Canon: Literary Theory Outside the Norton Anthology, Parallax 30:3 (2024), 289–294, https://doi.org/10.1080/13534645.2024.2476256.
Guttzeit, Gero, In/Visible Subjects: Literary Character and Narratives of Invisibility Since the Eighteenth Century, 2025 [forthcoming].
Grønstad Asbjørn/Øyvind Vågnes (Hg.), Invisibility in Visual and Material Culture, Cham 2019.
Horowitz, Evan, Literary Invisibility, New Literary History 45:3 (2014), 463–482, http://www.jstor.org/stable/24542736.
Král, Françoise, Social Invisibility and Diasporas in Anglophone Literature and Culture: The Fractal Gaze, Basingstoke 2014.
Mack, Arien Mack/Irvin Rock, Inattentional Blindness, Cambridge, MA 1998.
Peeren, Esther, The Spectral Metaphor: Living Ghosts and the Agency of Invisibility, Basingstoke 2014, https://doi.org/10.1057/9781137375858.
Samuels, Ellen Jean, My Body, My Closet: Invisible Disability and the Limits of Coming-Out Discourse, GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies 9:1 (2003), 233–255, https://muse.jhu.edu/article/40803.
Steiner, Henriette/Kristin Veel, Negotiating (In)Visibilities in Contemporary Culture: A Short Introduction, in: H.S./K.V. (Hg.), Invisibility Studies: Surveillance, Transparency and the Hidden in Contemporary Culture, Oxford 2015, xvii–xxix.